Dehnübungen für die Hüftmuskulatur gehören zum Standardprogramm vieler Sportler. Sie können helfen, führen jedoch nicht immer ans Ziel. Demnach scheint der M. iliopsoas mehr als nur Dehnung zu benötigen. Er gilt auch als sogenannter Seelenmuskel und ist unter anderem immer noch von unserem „Ur-Programm“ des Kämpfens und Fliehens beeinflusst. Die Folge ist eine Wechselwirkung zwischen Stress und Verspannung.
Eine verspannte Hüftmuskulatur ist mittlerweile ein weit verbreitetes Problem vieler Menschen. Vielfach werden Verspannungen des M. iliopsoas fast nur dem übermäßigen Sitzen zugeschrieben. Dass dieser Muskel aber auch massiv unter seelisch indizierten Einflüssen steht, ist ein Ansatz, der verfolgt werden sollte.
Anatomie des M. iliopsoas
Gerade unter Läufern, Radfahrern und Triathleten ist die „Betonhüfte“ mitunter fast schon Standard. Ebenso leiden viele Menschen mit überwiegend sitzender Tätigkeit unter Verspannungen und Schmerzen im Bereich von Hüfte und unterem Rücken. Mittel erster Wahl ist dabei häufig Dehnung, Dehnung, Dehnung – mit eher gemischtem Erfolg. Dies hängt nicht zuletzt mit der komplexen Anatomie des M. ilipsoas (in der Folge Psoas genannt) zusammen.
Der Psoas stand selbst im medizinischen Bereich lange Zeit nur wenig im Fokus. So wird er noch im Prometheus Lernatlas der Anatomie mit folgendem Absatz abgehandelt: „Neben den Mm. rectus femoris und tensor fasciae latae gehört der M. iliopsoas zu den Flexoren im Hüftgelenk. Als kräftigster Flexor besitzt er eine große Hubhöhe und ist daher ein wichtiger Muskel für das Stehen, Gehen und Laufen. Als typischer Haltemuskel mit überwiegend langsam zuckenden roten Muskelfasern (Typ-I-Fasern) neigt der M. iliopsoas jedoch zur Verkürzung (z. B. infolge überwiegend sitzender Tätigkeit) und muss daher regelmäßig gedehnt werden“.
Schrittweise zeichnet sich jedoch ein Paradigmenwechsel ab. Neuere Publikationen werfen einen differenzierteren Blick auf den Psoas und verweisen beispielsweise auf seinen Verlauf in zwei Schichten mit einem tiefliegenden und einem oberflächlichen Segment. Ebenso wird die Funktion des Psoas neu diskutiert. Neben seiner Rolle als primärer Hüftbeuger rückt zunehmend der Aspekt der (dynamischen) Stabilisierung, insbesondere in Bezug auf die Lendenwirbelsäule, in den Blick.
Parallel dazu wird dem umgebenden Fasziennetz zunehmend Beachtung geschenkt. Hier ist vor allem die Fascia thoracolumbalis (Lumbalfaszie) relevant, eine häufige (Teil-)Ursache von Schmerzen im unteren Rücken. Über das Fasziennetz ist der Psoas zudem mit weiteren Muskeln, wie etwa dem Zwerchfell, verbunden. Die neuere Forschung zeigt, dass gerade bei stressbedingten Zwerchfell- bzw. Atemproblemen der Psoas meist mitbeteiligt ist. Gleiches gilt für Verspannungen im Kieferbereich sowie Dysfunktionen des kraniomandibulären Systems.
Über das Fasziennetz besteht ebenfalls eine Verbindung zu bestimmten Organen, beispielsweise der Niere. Über die Nierenfaszie entsteht eine Interaktion mit dem Psoas: „Verliert die Niere ihre Beweglichkeit und sinkt sie stark nach unten, dann wird sie in den mittleren Teil des Psoas drücken. Offenbar reagiert dann der Muskel mit Anspannung darauf. Umgekehrt scheint es aber auch so zu sein, dass ein angespannter Psoas seine Spannung auf die Nierenfaszie übertragen kann.“
Punktuelle Dysfunktion, großflächige Auswirkung
Angesichts der vielfältigen Funktionen und Verbindungen des Psoas überrascht es nicht, dass Verspannungen und Dysfunktionen zu einer Vielzahl von Symptomen und Beschwerden führen können. Diese werden bei der initialen Diagnose häufig nicht ausreichend berücksichtigt. Gerade bei Schmerzen im unteren Rücken wird das sogenannte Psoas-Syndrom oft übersehen. Bei der Entstehung von Schmerzen spielen neben den Muskeln auch die beteiligten Faszien eine Rolle, so etwa beim myofaszialen Schmerzsyndrom, einem „Schmerzsyndrom mit charakteristischen, lokalen Schmerzen des Bewegungsapparates. Dabei liegt weder eine rheumatische, entzündliche oder neurologische Ursache zugrunde. […] Folge ist eine tastbare Dauerkontraktion, von der die Schmerzen ausgehen“. Dieses Syndrom tritt zum einen häufig bei bestimmten Sportarten (z. B. Fußball, Tanz, Hockey) auf, zum anderen bei Menschen mit überwiegend sitzenden Tätigkeiten.
Der Psoas als „Seelenmuskel“
Der Einfluss des Psoas beschränkt sich jedoch nicht nur auf den physischen Bereich. Häufig ist er zusätzlich an der Genese psychischer Belastungen wie Angst und Depression beteiligt. Gerade bei der Symptomtrias von Schmerzen im unteren Rücken, Angst und Stimmungsschwankungen besteht ein enger Zusammenhang. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil der Psoas einer der zentralen Muskeln der „fight or flight reaction“ ist. Liegt eine chronische Verspannung in diesem Bereich vor, wird dem Gehirn permanent ein Zustand von Bedrohung oder Gefahr signalisiert. Langfristig führt dies neben der psychischen Belastung zu weiteren Problemen wie einer Schwächung des Immunsystems.
Konservative Ansätze
Angesichts der Vielzahl möglicher Bereiche, auf die Dysfunktionen des Psoas Auswirkungen haben, überrascht es nicht, dass es nicht die eine, stets anwendbare Gegenmaßnahme gibt. Vielmehr muss auf eine Kombination unterschiedlicher Methoden und Ansätze zurückgegriffen werden.
Trotz aller Limitation gehört dazu nach wie vor das klassische Stretching. Für diesen Bereich existieren – nicht zuletzt im Yoga – bereits zahlreiche Übersichten und Trainingsimpulse, sodass hier nicht näher darauf eingegangen werden soll. Gleiches gilt für Übungen zur Stärkung bzw. Balancierung. Diese können vor allem bei einer starken Abschwächung oder Dysbalance einen positiven Effekt haben oder bei Tendinopathien zum Einsatz kommen.
Ergänzt wird dieser Bereich um manuelle Therapieformen, beispielsweise im Rahmen einer osteopathischen Behandlung. Bezüglich der Behandlungserfolge liefert die Studienlage ein gemischtes Bild. So sprechen vor allem unspezifische Schmerzen im unteren Rücken auf eine osteopathische Behandlung gut an. Allerdings ist die alleinige manuelle Behandlung in der Regel für dauerhafte Schmerzfreiheit nicht ausreichend und bedarf einer Ergänzung durch weitere Maßnahmen.
Neuere und interdisziplinäre Ansätze
Ein möglicher Ansatzpunkt für derartige weiterführende Maßnahmen ist die Polyvagal-Theorie. Diese ist inzwischen in einer Reihe von Therapiekonzepten übernommen und in konkrete Behandlungsformen überführt worden. Eine der Grundannahmen ist, dass „die Ruhespannung unserer Muskeln durch das Nervensystem bestimmt wird. Durch repetitive Bewegungen und Stress lernt das Nervensystem mit der Zeit, in bestimmten Muskeln eine hohe Spannung aufrecht zu erhalten“. Dabei spielt vor allem das Muskelgedächtnis eine bedeutende Rolle. Das erklärt, warum es nicht ausreichend ist, den Muskeln allein durch Dehnung zu entlasten. Vielmehr muss sozusagen eine Neuprogrammierung stattfinden. Hierfür muss der behandelnde (Physio-)Therapeut in der Lage sein, die Ursachen korrekt zu erkennen und zielgerichtet zu behandeln.
Dies ist nicht nur bei den physischen, sondern auch den häufig komorbid vorliegenden psychischen Beschwerden wie Angst und (depressiver) Verstimmung wichtig. Körperorientierte Therapieformen wie Somatic Experiencing oder TRE bieten eine Kombination von Maßnahmen, die beide Bereiche – Physis und Psyche – ansprechen. Ziel ist stets, das Nervensystem aus dem permanenten Stressmodus heraus und zurück in die Balance zu bringen und so eine umfassende Linderung diverserer Beschwerden zu erzielen.
Natürlich sind diese Therapieformen nur von entsprechend qualifizierten Experten durchzuführen. Ein grundsätzliches Verständnis des Wechselspiels zwischen muskulärer Anspannung, Nervensystem und psychischer Verfassung ist jedoch prinzipiell für jeden Trainer von Vorteil. Denn auf diese Weise wird eine umfassende, mehrdimensionale Betreuung möglich, die weg von einer rein biomechanischen, hin zu einer ganzheitlichen Perspektive geht.